By Isabel Cagala 

 

Die DAX-Pionierin und Multiaufsichtsrätin Margret Suckale spricht über die Risiken von Energiekrise, Unternehmensregulierung und Fachkräftemangel für den Wirtschaftsstandort Deutschland, die Transformation des Rechtsmarkts und darüber, weshalb es immer mehr deutsche Unternehmen in die USA zieht.

 

Frau Suckale, Sie haben 12 Jahre für ein amerikanisches Unternehmen gearbeitet. Was können wir von US-Unternehmen lernen?

Meine Zeit bei der Mobil Oil liegt schon über 25 Jahre zurück. Damals hat mich sehr beeindruckt, wie sehr sich die Führungskräfte dort um Diversität und vor allem auch um die echte Einbeziehung von Minderheiten bemüht haben. Auch das Thema Leadership wurde damals schon sehr ernst genommen. Wenn ein Vorgesetzter schlechte Leadership Skills hatte, konnte er das auch durch noch so gute geschäftliche Erfolge nicht aufwiegen. Da gab es „Zero Tolerance“, übrigens auch bei anderen Regelverstößen. In amerikanischen Unternehmen kommuniziert man sehr direkt und manchmal schonungslos miteinander. Aber dann weiß jeder, woran er oder sie ist.

Sie sind Mitglied in den Aufsichtsräten von vier Unternehmen. Ausgerechnet eines der emissionsintensivsten dieser Unternehmen, Heidelberg Materials, möchte das erste klimaneutrale Unternehmen der Branche werden. Inwiefern trägt die Unternehmensleitung – jenseits von gesetzlichen Anforderungen – Verantwortung für das Klima in 50 Jahren? 

Klimaschutz und die Reduzierung der CO₂-Emissionen sind die entscheidenden Aufgaben unserer Zeit, und die energieintensiven Industrien stehen hier in einer besonderen Verantwortung, auch jenseits von gesetzlichen Anforderungen. Heidelberg Materials geht diese Aufgaben mit Hochdruck und großem Engagement an, entsprechend ist das Bonussystem für Führungskräfte an das Erreichen der Klimaziele geknüpft. Das Unternehmen hat branchenweit das ambitionierteste CO2-Reduktionsziel, im Einklang mit dem 1,5°C-Szenario. Der Fokus liegt auf einem nachhaltigen Produktportfolio, bereits 2030 soll die Hälfte des Umsatzes mit klimafreundlichen Produkten erzielt werden. Technologien wie Carbon Capture, Utilisation and Storage (CCUS) und der Bereich Kreislaufwirtschaft haben ein großes Potenzial für die Zementindustrie auf dem Weg zu Net Zero-Emissionen. In beiden Bereichen baut Heidelberg Materials seine Pionierrolle weiter aus.

Die deutsche Industrie sucht händeringend nach Fachkräften. Der Blick in die Zukunft verheißt aufgrund des demographischen Wandels leider nichts Gutes. Wie kann die deutsche Wirtschaft den Bedarf an Fachkräften für die kommenden Jahrzehnte sicherstellen? 

Aus den Babyboomern werden jetzt die „Rentenboomer“. 1964 wurden fast 1,4 Millionen Menschen geboren. Der Jahrgang der heute 20-jährigen ist dagegen nur noch halb so stark. Der Mangel an Fachkräften war insofern absehbar und wird jetzt dramatisch deutlich. Diejenigen, die meinten, man könne die fehlenden Fachkräfte komplett durch Automatisierung und Digitalisierung ersetzen, mussten einsehen, dass sie falsch lagen. Die gute Nachricht ist: Es gibt Lösungen für die demographische Herausforderung. Aber die schlechte Nachricht ist: Sie wurden bislang nicht konsequent umgesetzt. Ohne qualifizierte Zuwanderung werden wir die 100.000 Stellen, die allein laut einer Bitkom Studie in Deutschland im IT Bereich fehlen, nicht füllen können. Hier brauchen wir endlich eine überzeugende Strategie. Eine andere wesentliche Stellschraube ist das sogenannte Upskilling, die Höherqualifizierung von Arbeitskräften. Upskilling ist keine Frage des Alters, man kann immer dazulernen. Die Deutsche Telekom hat zum Beispiel frühzeitig mit umfangreichen Re- und Upskilling Initiativen begonnen, die bereits gute Erfolge zeigen. Der Mangel ist bei den MINT-Nachwuchskräften in Deutschland besonders hoch. Hier helfen gemeinsame Initiativen der Wirtschaft, Wissen zu vermitteln und junge Menschen für die MINT-Fächer zu gewinnen.  Besonders begeistert bin ich von der Wissensfabrik Deutschland, hinter der rund 130 Unternehmen und Stiftungen stehen und die auch von Privatpersonen unterstützt wird. Daneben sollte die klassische Ausbildung attraktiver gemacht werden. Als Beispiel möchte ich hier Infineon nennen. Dort hat man bereits früh auf eine zeitgemäße Ausbildung geachtet – etwa durch Auslandseinsätze, vielseitige Praktika und IHK-Zusatzqualifikationen. Dadurch sind die Bewerber- und Ausbildungszahlen bei Infineon gestiegen, obwohl sie in vielen anderen Bereichen rückläufig sind.

Wäre es nicht an der Zeit, den Zuzug ausländischer Fachkräfte gesetzlich entschieden zu erleichtern oder lösen KI und Automatisierung ohnehin bald die menschliche Geistes- und Schaffenskraft ab?

Absolut! Wir brauchen die Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte. Aber wir müssen in Deutschland noch einiges tun. Vor allem brauchen wir schnelle und unbürokratische Verfahren, um für Arbeitsuchende aus dem Ausland überhaupt attraktiv zu sein. Einige Menschen haben Sorgen, dass dies zu Lasten unserer Arbeitskräfte in Deutschland gehen könnte. Darum müssen wir auch ihnen faire Chancen bieten. Arbeit ist genug für alle da.  Im Januar haben die zuständigen Ministerien erste Entwürfe zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten vorgelegt. Aber jetzt muss erst noch ein langwieriger Abstimmungsprozess mit anderen Ressorts und die Einbindung der betroffenen Verbände erfolgen. Das dauert, und uns läuft die Zeit davon. Wir brauchen beschleunigte und vor allem digitalisierte Visaprozesse und eine schnelle Anerkennung von Abschlüssen.

Die Inflation befindet sich in rekordverdächtigen Höhen. Wie erklärt man der Belegschaft, dass die Löhne nur in deutlich geringerem Maße ansteigen? 

​Die Mitarbeiter wissen häufig am besten, was Arbeitgeber in Gehaltsrunden tun können, ohne dass die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie leidet oder Arbeitsplatzabbau bzw. Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland drohen. Die Sozialpartnerschaft, also die Kooperation zwischen Gewerkschaften, Betriebsräten und Arbeitgebern, hat sich bisher in Summe durch eine hohe Verantwortung aller Beteiligten ausgezeichnet. Das ist für mich ein echter Standortvorteil in Deutschland. Der letzte breit angelegte Streiktag Ende März, der die halbe Republik lahmgelegt hat, bleibt hoffentlich eine Ausnahme. Alles andere würde dem Standortimage Deutschland nachhaltig schaden.

Obwohl die Fachleute für 2023 eine leicht abgeschwächte Inflation erwarten, werden die Gehälter in Deutschland in diesem Jahr stärker ansteigen. Allerdings trifft die Inflation die Menschen je nach ihrem Ausgabeverhalten und ihrer Einkommenshöhe sehr unterschiedlich. Der gesetzliche Mindestlohn wurde im Oktober 2022 auf 12 Euro angehoben und ist damit seit Januar 2022 in zwei Schritten um 22 % gestiegen. Damit konnte die Kaufkraft gerade bei niedrigen Einkommen deutlich erhöht werden. Seitdem hat sich Deutschland innerhalb der EU beim gesetzlichen Mindestlohn in eine der vorderen Positionen gebracht. Man kann nur hoffen, dass dadurch mehr Menschen in den Arbeitsmarkt kommen.

Außerdem gab es seit Beginn der Energiekrise einige staatliche Maßnahmen, mit denen die Menschen entlastet wurden. Und last but not least haben viele Unternehmen ihren Mitarbeitenden einen Inflationsausgleich gezahlt, um ihnen damit wenigstens einen Teil der höheren Ausgaben auszugleichen.

Die Energiekrise macht der deutschen Wirtschaft insbesondere in den Bereichen Chemie- und Metallindustrie schwer zu schaffen. Die billigen Energiepreise in den USA hingegen locken immer mehr deutsche Unternehmen an. Verspielt Deutschland gerade seine Wettbewerbsfähigkeit in einem überaus kompetitiven Marktumfeld? 

Die Gefahr besteht leider. Wir haben bereits vor der Energiekrise gesehen, dass deutsche Unternehmen verstärkt in den USA und Asien investieren. Dafür gibt es viele Gründe, aber vor allem die Regulierungsdichte treibt Unternehmen aus Deutschland und Europa. Das sind nicht nur die forschungsintensiven, sondern auch die energieintensiven Unternehmen. Bei den Energiepreisen war Deutschland auch schon vor der Energiekrise führend. Und über den Arbeitskräftemangel sprachen wir bereits. All das gefährdet den Standort Deutschland.

Deutschland liegt in einer ZEW-Studie nur auf Platz 18, wenn es um die wirtschaftliche Attraktivität geht. An erster und zweiter Stelle stehen die USA und Kanada. Die Strategie vieler Unternehmen sieht ein „Go West Szenario“ vor, d. h. verstärkte Investitionen in den USA. Mit dem Inflation Reduction Act betreiben die USA eine stark anreizorientierte Industriepolitik und korrigieren damit die Fehler der Vergangenheit. Genau diese Fehler machen wir jetzt in Deutschland. Nicht alle Anlagen, die einmal stillgelegt sind, werden wieder angefahren. Die Chemie versorgt nahezu alle Industriezweige mit ihren Produkten. Wenn wir diese nicht in Deutschland und Europa produzieren, begeben wir uns erneut in Abhängigkeiten. Deindustrialisierung ist keine Lösung für Deutschland, sondern ein großes Risiko.

Lassen Sie uns einen Moment über Sinn und Unsinn von Regulierung sprechen. Im Gegensatz zu den USA belegt Deutschland einen unrühmlichen Spitzenplatz mit Blick auf die Unternehmensregulierung. Der damit verbundene Verwaltungsaufwand bindet wertvolle Ressourcen, die dann an anderer Stelle, beispielsweise im Bereich Forschung und Innovation, fehlen. Das hohe Maß an Regulierung wird zum Wettbewerbsnachteil für deutsche, insbesondere mittelständische Unternehmen. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung? 

Der Aufwand, der durch Regulierung in den Unternehmen entsteht, ist enorm. Nehmen wir als Beispiel die Taxonomie und die damit einhergehende nicht finanzielle Berichterstattung. Die Intention der Taxonomie ist gut, aber die Ausführung überfordert die Firmen. Was große Unternehmen vielleicht noch gerade irgendwie stemmen können, bringt kleine und mittlere Unternehmen an ihre Grenzen. Auch im Handwerk gibt es eine Unzahl von Dokumentations- und Berichtspflichten. Dabei haben die Betriebe ganz andere Dinge zu schultern.

Die USA sind traditionell sehr zurückhaltend mit der Regulierung von Unternehmen. Erklärt auch dies die sehr viel höhere Unternehmerdichte der Vereinigten Staaten im Vergleich zu Deutschland? 

Das ist sicher einer der Gründe. Generell haben Unternehmen in den USA nach meiner Wahrnehmung ein höheres Ansehen, während man der Wirtschaft hier häufig mit Misstrauen begegnet. Daher auch die hohe Dichte an Regulierung. Man traut den Unternehmen zum Beispiel nicht zu, dass sie eine ureigene Motivation haben, erneuerbare Energien einzusetzen und dadurch CO2 und Kosten zu sparen.

Auch die vergleichsweise hohen Steuern und Abgaben wirken sich negativ auf die Attraktivität unseres Standortes aus. Laut einer OECD-Studie kann Deutschland auch bei den Standortbedingungen für Start-Ups nicht mit den USA und Kanada mithalten. Frankreich, Großbritannien und Irland liegen laut dieser Studie ebenso vor Deutschland. Das muss uns zu denken geben. Für Studierende aus dem Ausland ist Deutschland weiterhin attraktiv, aber diese jungen Menschen verlassen Deutschland dann nach ihrem Abschluss wieder, weil die Einwanderung qualifizierter Fachkräfte immer noch sehr bürokratisch verläuft. Wir sprachen eben schon darüber. Auch Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte dauern in Deutschland viel zu lange, und Fördergelder fließen nur schleppend. All das muss sich ändern, wenn wir wieder zurück auf die Erfolgsspur wollen.

Sie werden immer wieder als Pionierin bezeichnet. Das DIW listete Sie lange als einzige Frau unter den rund 550 Vorstandsmitgliedern der 100 umsatzstärksten Unternehmen in Deutschland. Welche Fähigkeiten haben Sie dorthin geführt? 

Als ich 2005 in den Vorstand der Deutschen Bahn kam, hatte es bereits andere Frauen in Vorständen gegeben, auch in DAX Unternehmen. Das ist mir wichtig zu erwähnen, denn es gab mehrere Pionierinnen, die auch mir damals Mut gemacht haben. Es mag sein, dass ich zu einem Zeitpunkt die einzige Frau war, aber die Zeiten sind ja zum Glück vorbei. Heute gibt es eine große Zahl hervorragend ausgebildeter Frauen, die die Zukunft von Unternehmen mitbestimmen. Wichtig ist, dass man sich dabei nicht verbiegen lässt. Häufig wurde mir empfohlen, härter aufzutreten und mal mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Das habe ich immer abgelehnt, denn das ist nun einmal nicht mein Führungsstil.

Auch wenn sich ein gewisser Wandel abzeichnet, werden die Vorstände deutscher Unternehmen  bedauerlicherweise noch immer ganz überwiegend von Männern dominiert. Daher erlauben Sie die Frage: Wie begegnet man raubeinigen Männerrunden? 

Zum Glück kann ich mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal in einer solchen Runde war. Gibt es die wirklich noch? Natürlich habe ich viele schwierige Verhandlungssituationen erlebt, und dann können auch mal die Nerven blank liegen. Was mir meist in solchen Situationen geholfen hat, ist meinem Gegenüber mit Fragen, einem gewissen Verständnis und oft auch mit Humor zu begegnen. Der Perspektivwechsel hilft auch gelegentlich. Warum bläst sich das Gegenüber so auf? Was hat er oder sie im schlimmsten Fall zu befürchten? Wie kann man ein Ergebnis erzielen, das für beide Seiten einen Gewinn darstellt? Ich habe einige Kurse an der Harvard Law School im Rahmen des Program on Negotiation (PON) besucht, das hat mir in schwierigen Verhandlungssituationen sehr geholfen. Ein respektloses Verhalten würde ich allerdings niemals dulden.

Sie sind seit nahezu 40 Jahren in der internationalen Konzernwelt unterwegs. Was treibt Sie an? 

Ich habe 1985 als Justitiarin in der Mobil Oil AG (heute ExxonMobil) angefangen, einem amerikanischen Unternehmen, das sehr international aufgestellt ist. Dort habe ich viel über andere Kulturen gelernt. Die Amerikaner waren uns in vielen Führungsthemen voraus. Diversity war damals schon ein großes Thema. Das waren spannende Zeiten, und spannend ist es für mich bis heute geblieben. Vor allem sind es die vielen Begegnungen mit großartigen Menschen aus der ganzen Welt, die mein Berufsleben inspiriert haben. Zu vielen Kollegen, sei es bei der ExxonMobil, der Deutschen Bahn oder bei der BASF habe ich heute noch Kontakt, mit einigen verbinden mich Freundschaften.

Die Arbeit in den Aufsichtsräten ist noch einmal eine ganz neue Dimension. Ich muss mich mit neuen Technologien und Geschäftsmodellen beschäftigen, mache gerne Betriebsbesuche und führe sehr viele Gespräche. Ich lerne immer noch jeden Tag so viel dazu und nehme viele Möglichkeiten der Fortbildung war. Digitalisierung, Automatisierung und Nachhaltigkeit, das sind Themen, die uns in den Unternehmen vor neue Herausforderungen stellen. Andererseits kann ich heute nach fast 38 Jahren in Wirtschaftsunternehmen auch einiges zurückgeben und darf meine Erfahrung einbringen. Das macht mir einfach große Freude.

Sie gelten als sachorientiert und bodenständig. Wie gelingt es, trotz der vielen Privilegien, die entsprechende berufliche Positionen mit sich bringen, auf dem Teppich zu bleiben?

Vermutlich bekommt man das bereits in die Wiege gelegt. Meine Eltern waren sehr geerdet und haben sich nicht von dem Geld und dem Lebensstil anderer Leute beeindrucken lassen. Natürlich hatte ich als Vorstand viel Unterstützung, ein tolles Team, das mir bei der Aufgabenbewältigung zur Seite stand und mich auch mit konstruktiver Kritik unterstützt hat. Heute fahre ich statt mit der S-Klasse mit der S-Bahn, und bin meine eigene Assistentin. Reisen und Hotels zu buchen ist dank vieler Apps zum Glück sehr viel einfacher geworden. Und wenn wirklich mal die Gefahr bestanden hätte, dass ich abhebe, gab es immer genug Menschen in meinem Leben, die mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgezogen hätten. Ich bin immer der Devise gefolgt, dass man kein Aufhebens um sich selbst machen sollte.

Nach zahlreichen beruflichen Stationen im Ausland hätten Sie Ihre Karriere auch in den USA oder Großbritannien fortsetzen können. Für viele ist der Sprung in die angelsächsische Welt überaus reizvoll. Weshalb sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt? 

Als ich in London für die Mobil Oil arbeitete, wurde mir nach dem Ende meiner Entsendung ein lokaler Anstellungsvertrag angeboten. Damals habe ich tatsächlich kurzfristig mit dem Gedanken gespielt, aber die Bedingungen wären nicht dieselben wie als Expatriate gewesen. Ich lebte damals mitten in der Stadt und war nur ein paar U-Bahn Stationen von den Theatern und Kultureinrichtungen entfernt. Bei den hohen Mieten in London hätte ich mit einem lokalen Vertrag sehr weit aus der Stadt ziehen müssen. Und je länger ich im Ausland war, umso attraktiver erschien mir Deutschland. Dann wurde mir 1997 das Angebot gemacht, die Rechtsabteilung der Deutschen Bahn in Berlin zu leiten. Die Deutsche Bahn AG und die Stadt Berlin waren damals mitten in der Transformation, Ost und West wuchsen mehr und mehr zusammen. Bei der Bahn hatte ich viele Kollegen aus der ehemaligen DDR und wir haben oft intensive Gespräche geführt, die ich als sehr bereichernd empfunden habe. Diese Zeit möchte ich nicht missen. Wie heißt es so schön: „Weggehen um anzukommen.“

Automatisierung, Fachkräftemangel oder Klimaauflagen – worin sehen Sie die größte Herausforderung für die Wirtschaft in den kommenden zehn Jahren? 

Es ist nicht die eine Herausforderung, sondern die Kombination der verschiedenen Megatrends, die uns gleichzeitig fordert: Digitalisierung, Klimawandel, Geopolitik, gesellschaftlicher Zusammenhalt – diese Themen und noch viele mehr müssen wir jetzt gestalten. Kommen wir noch einmal auf den Fachkräftemangel zurück, denn hier handelt es sich um ein klar vorhersehbares Risiko: Die Bundesanstalt für Arbeit nennt die Zahl von 400.000 Einwanderern, die wir jedes Jahr bräuchten, um unsere Position als viertgrößte Volkswirtschaft in der Welt zu halten. Und diese Zahlen werden in den nächsten Jahren weiter steigen. Wenn wir nicht im internationalen Wettbewerb zurückfallen wollen, sollten wir nicht warten, bis wir irgendwann genügend Fachkräfte an den Unis ausgebildet haben. Die Automatisierung wird in den Bereichen, in denen der größte Mangel herrscht, nicht helfen. Leider lernt Deutschland nur in der Krise. Dann sind plötzlich Dinge möglich, die früher als undenkbar galten, wie zum Beispiel das Bereitstellen von Flüssiggasterminals.

Sie werden regelmäßig von Startups um Rat und Unterstützung gebeten. In welchen Bereichen sehen Sie die größten Chancen für Investoren?

Das Erfolgsrezept vieler Startups ist ja gerade, dass dort ein Bedarf gesehen wird, den wir bisher noch gar nicht kannten. Daher gibt es kaum einen Bereich, in dem Startups nicht reüssieren könnten: Gesundheit, Ernährung, Finanzen, Datenverarbeitung, Personaldienste und vieles mehr. Daher würde ich die Chancen nicht an Bereichen festmachen, sondern an den handelnden Personen. Investoren haben ein gutes Gespür dafür, ob ein Team den Markt wirklich durchdrungen hat. Wenn das Team dann noch gut und überzeugend pitchen kann, stehen die Chancen gut. Insgesamt habe ich größte Hochachtung vor den jungen Menschen, die sich auf das Abenteuer Startup einlassen und ins Risiko gehen. Das ist echtes Unternehmertum.

Welchen Rat würden Sie jungen Juristen mit auf den Weg geben? 

Der juristische Beruf wird sich aufgrund der Digitalisierung und dem stärkeren Einsatz von künstlicher Intelligenz verändern. Juristen sollten sich daher mit diesen Themen auseinandersetzen, denn auch hier sehe ich mehr Chancen als Risiken. KI macht den juristischen Beruf vermutlich attraktiver. Langwierige Recherchen nach höchstgerichtlichen Entscheidungen sind ja nicht jedermanns Sache. Diese Aufgabe werden zunehmend künstliche Intelligenzen übernehmen.

Außerdem ist es immer von Vorteil, einige Zeit im Ausland zu verbringen und sich mit anderen Rechtssystemen auseinanderzusetzen. Und schließlich hat mir sehr geholfen, dass ich berufsbegleitend einen Executive MBA an der WHU zusammen mit der Kellogg Business School gemacht habe. Damit habe ich ein ganz anderes Verständnis für ökonomische Zusammenhänge und wirtschaftliche Kennzahlen entwickeln können.

Wenn Sie noch einmal 20 wären, wohin und was tun? 

Gerne hätte ich ein paar Jahre in den USA gelebt, wo ich häufig beruflich zu tun habe. Oder auch in Australien, wo ich eine Station als Referendarin bei einem großen Anwaltsbüro in Sydney verbracht habe. Aber sonst würde ich vieles, eigentlich fast alles wieder genauso machen.

Sie sind viel rumgekommen in der Welt. Welche Persönlichkeit, die Sie kennenlernen durften, hat Sie besonders beeindruckt? 

​In meinem Leben haben mich viele Menschen beeindruckt. Dazu gehörten meine Ausbilderin am OLG Hamburg, einige meiner Professoren und viele meiner Chefs. Aber auch einige Mitarbeiter:innen und Kollegen fallen mir in diesem Zusammenhang ein. Menschen, die gut zuhören, konstruktiv diskutieren und andere unterstützen, das sind Menschen, von denen ich mir gerne eine Scheibe abschneide.

Zuletzt wie immer die Frage: Sie haben 12 Stunden in New York, was machen Sie? 

Im Winter auf jeden Fall Schlittschuhlaufen im Rockefeller Center. Danach besuche ich meine Schulfreundin Marina, die seit 25 Jahren in der City lebt. Wir würden ins Metropolitan Museum gehen, wo sie als ehrenamtlicher Guide arbeitet. Wenn die Zeit dann noch reicht, besuche ich gerne noch ein Theaterstück, ein Musical oder die MET.

Frau Suckale, ich danke Ihnen für das Gespräch. 

Das Interview führte Isabel Cagala. 

 

Interviews

30 Fragen an Sigmar Gabriel: “Wir können uns etwas vom Optimismus der US-Amerikaner abschauen” 

Deutsche Juristen in den USA – Reinhard von Hennigs: “Die USA haben mir etwas gegeben, was Deutschland mir nie hätte geben können”